Seit Menschengedenken war der Raum außerhalb der eigenen (privaten) Behausung – sei es ein Zelt, eine Hütte oder ein Haus – der Ort des Austausches unter Nachbarn. In manchen Zeiten und Kulturen kochte, feierte und teilte man mehr in diesem “öffentlichen Raum”, in anderen weniger. Seit Mitte des 20. Jahrhundert erfährt der öffentliche Raum einen enormen Bedeutungsverlust. Die Motorisierung der Massen einerseits und die Echtzeitkommunikation ohne gemeinsamen physischen Raum andererseits haben den städtischen öffentlichen Raum zu einem Ort degradiert, an dem es vorwiegend darum geht, schnell von A nach B zu kommen. (vgl. hierzu die einflussreiche Charta von Athen von 1933)
Für diese Entwicklung gibt es zahlreiche gute Gründe. Zuviel Nähe engt ein, sie verhindert, die Welt und Fremdes kennenzulernen. Und wer wollte auf seine Nachbarn angewiesen sein, um etwas über die aktuelle politische Lage zu erfahren? Doch andererseits haben moderne Techniken auch menschliche Praktiken ersetzt, die für den Zusammenhalt einer Gesellschaft essenziell sind. Die Privatisierung des ehemals öffentlichen Lebens hat dazu geführt, dass der alltägliche kleine Tratsch auf der Straße wegfiel und mit der Zeit auch ehemals selbstverständliche kleine Hilfestellungen unter Nachbarn nicht mehr üblich waren. Man kennt sich nicht mehr. Selbst die bloße Beobachtung des Verhaltens Fremder nahm ab, da mit dem Siegeszug des Automobils der Platz fehlte, sich auf der Straße aufzuhalten. Vergnügen machte es auch nicht. Das hat uns individuell verändert und die Gesellschaft insgesamt.
Auch wir moderne Menschen sind soziale Wesen, aber die echte Begegnung mit anderen Menschen außerhalb unserer eigenen sozialen “Blase” wird zunehmend als Zumutung empfunden. Dadurch wird verstärkt, dass wir uns als Gesamtgesellschaft misstrauisch begegnen.
So hat gesellschaftlicher Zusammenhalt auch stark mit der Gestaltung der Straße zu tun und wir fordern im Sinne einer liberalen und heterogenen Gesellschaft mit dem Manifest der freien Straße mehr Raum für alltägliche Begegnungen. Die von Autos befreite Straße fördert das nachbarschaftliche Zusammenleben.
Das menschliche Gehirn arbeitet nach Mustern, die uns unsere komplexe Welt vereinfachen. So sind wir beispielsweise darauf getrimmt, alles Fremde einzuordnen und diese Wahrnehmung dann zu verallgemeinern. Selbst in Bezug auf unsere Meinung über die Gesellschaft bzw. den Zustand unseres Landes verlassen wir uns am liebsten auf unsere eigenen Eindrücke und Erfahrungen. Die Nachbarschaft imitiert für uns täuschend echt die Gesellschaft als Ganzes, da sie uns zugleich vertraut und fremd ist – wir also manche Leute kennen, aber eben längst nicht alle in dieser für uns heterogenen Gruppe von Menschen mit einer Vielzahl an Lebensentwürfen. Dass die Nachbarschaft natürlich nur ein Bruchteil der Gesamtgesellschaft ist, blenden wir der Einfachheit halber gerne aus. Und so geht das hohe oder geringe Vertrauen, das wir in unsere Nachbarschaft haben zum Großteil auf das Vertrauen in die Gesellschaft über.
Eine empirische Untersuchung in den Jahren 1969 - 1981 in San Francisco zeigte, dass Nachbarschaften mit geringem Autoverkehr dreimal mehr freundschaftliche Verbindungen in der Straße hatten als Nachbarschaften mit viel Autoverkehr. Dies bestätigen auch neuere Studien – beispielsweise auch die hier Dargestellte aus Bristol in England.
Interessant ist auch, dass es große Unterschiede bei Anwohnern von viel bzw. wenig befahrener Straßen gibt, wenn es um die Wahrnehmung des eigenen Territoriums geht, also dem öffentlichen Raum um sein Zuhause, in dem man sich gut auskennt und für den man sich in gewisser Weise auch verantwortlich fühlt. Was als eigenes Territorium beschrieben wird, ist an stark befahrenen Straßen viel kleiner und somit auch das, worauf man einen Blick hat. Die Nutzung des Straßenraums als "eigenen und gemeinsamen Ort" fehlt. Die Straße ist eher eine Bedrohung.
Niemand wohnt gerne an Straßen, über die täglich viele Tausende PKW und LKW rauschen, weshalb die Wohnungen günstiger sind und dadurch leistbar für Geringverdiener. Da Transitzonen aber oft auch keinen Raum für Erholung, Bewegung, Begegnung und Spielmöglichkeiten bieten, lassen sich auch qualitätsvolle Angebote für Kinder, Senior*innen und Jugendliche schwerer realisieren. Was wiederum dazu führt, dass die soziale Ungleichheit noch stärker wird. Eine ewige Abwärtsentwicklung, wenn der Verkehr nicht auf ein erträgliches Maß reduziert werden kann!
Als 1995 die Temperaturen in Chicago über Wochen auf über 40°C kletterten, waren die ärmlichen und demografisch vergleichbaren Vororte Auburn und Englewood den äußeren Umständen nach gleichermaßen betroffen: Die Menschen besaßen in beiden Vierteln kaum kühlende Klimaanlagen oder andere Hilfsmittel, die sie vor der Hitze schützten. Dennoch riss die Hitzewelle im Vorort Englewood zehnmal so viele Menschen in den Tod.
Der US-Soziologe Eric Klinenberg machte sich auf die Suche nach den Ursachen und bewies mit seiner “Autopsie" der Katastrophe, dass es an den vorhandenen oder eben nicht vorhandenen Nachbarschaftsbeziehungen lag, wie wahrscheinlich das Überleben der Menschen war. die in Auburn durch eine funktionierende soziale Infrastruktur gegeben war.
Eine aktuelle Studie des Leibnitz Instituts präzisiert die Aussage des Chicagoer Befunds. In der Corona-Pandemie untersuchte sie, wie Menschen mit den Herausforderungen der Krise umgehen und fand heraus, dass überall dort, wo es schon vor der Krise soziales Engagement unter Nachbarn gab, sich dieses in der Krisensituation verstärkte: “Die Bereitschaft zur Nachbarschaftshilfe ist unter Personen besonders hoch, die bereits vor der Krise ein hohes Vertrauen in ihre Nachbarschaft hatten und über viele Kontakte verfügten.” Andersherum bleibt die Nachbarschaftshilfe auch in Krisenzeiten eher aus, wenn Menschen über wenig soziales Kapital, also wenige Kontakte, verfügen.
Der Zusammenhang von Kriminalität und Städtebau wird auch unter dem Schlagwort "Kriminalpräventive Siedlungsgestaltung" diskutiert. Man ist sich dabei einig, dass sich eine (Wieder)-Belebung des Sozialraums Straße in einer sinkenden Kriminalitätsrate niederschlägt. “Durch die Anwesenheit anderer Menschen erhöht sich das Sicherheitsgefühl des Einzelnen und potenzielle Regelverletzer werden durch das Risiko, beobachtet zu werden, abgeschreckt."
Übrigens hat erst die Funktionstrennung der Stadt auf Basis der Charta von Athen dafür gesorgt, dass einseitig genutzte Stadträume entstanden und Viertel nur zu bestimmten Tageszeiten genutzt wurden. Dadurch ergaben sich beispielsweise Gewerbe- oder Einkaufsstraßen, die abends und nachts menschenleer sind oder tagsüber verwaiste Wohngebiete in denen sich Kriminelle unbeobachtet fühlen.
Zusammenleben braucht Leben. Gesellschaft braucht Geselligkeit.
Eine befreite Straße erkennt man am neuen Grad der Selbstverständlichkeit, mit der Menschen dort ihre Zeit verbringen. Die Hektik hat nachgelassen, denn befreite Straßen sind nicht mehr länger nur Transitorte. Auf ihren (ehemaligen) Parkplätzen sind Aufenthaltsorte entstanden. Anders als bei einer klassischen Fußgängerzone, ist eine befreite Straße dabei kein urbaner Laufsteg, auf den es die Menschen zieht, um zu sehen und gesehen zu werden. Befreite Straßen sind Alltagsorte.
Die Gestaltung der jeweiligen befreiten Straßen spiegeln die Bedürfnisse der Anwohnenden wider und folgen gleichzeitig einem Rhythmus von Enge und Weite, von Rückzugsmöglichkeiten und Präsentationsflächen, von fest Installiertem und Temporärem. Auch starke Anker fürs Auge – also beispielsweise Kunstinstallationen oder besondere Straßenarchitekturen – tauchen in befreiten Straßen auf. Sie ermöglichen eine Wiedererkennung und fördern ein Gefühl von Identität.
In dieser Mischung unterschiedlicher Atmosphären fühlen sich Nachbarn mit ihren vielfältigen Bedürfnissen und Interessen eingeladen. Es wird normal, Anwohnende zu sehen, wie sie auf ihrer Straße einer Arbeit, einem Hobby oder irgendetwas dazwischen nachgehen. Und beim entspannten Nebeneinander ergeben sich leicht Gespräche und lose Bekanntschaften, aber auch Freundschaften und gemeinsame Projekte.
Vieles wird plötzlich denkbar. Kinder und Jugendliche lernen sich untereinander leichter kennen, weil die Gefahr durch motorisierten Straßenverkehr stark abnimmt. Dadurch werden sie früher selbstständig und bauen ein gesundes Selbstbewusstsein auf. Senioren trauen sich aus ihren vier Wänden und können beispielsweise Migrantinnen oder Kindern ihre Fähigkeiten und Erfahrungen weitergeben. Erwachsene kommen mit anderen Expertisen in Kontakt, tauschen sich aus, inspirieren sich. Eingeschränkte Personen finden leichter Zugang zu Menschen, die sie ansonsten gar nicht treffen.
Befreite Straßen werden so unterschiedlich sein, wie die Menschen, die sich auf und an ihnen aufhalten. Es wird aktivere und inaktivere befreite Straßen geben. Es wird befreite Straßen geben, in denen es zu Interessenskonflikten kommt – bei Bedarf muss auch ein externer Kümmerer eingeschaltet werden. Und natürlich gibt es auch in Zukunft Lästereien und Streit unter Nachbarn – wir bleiben schließlich Menschen.
Insgesamt können befreite Straßen aber zu einer sozialeren, innovativeren und widerstandsfähigeren Stadt- und Gesamtgesellschaft führen. Denn wir Menschen sind „soziale Wesen“ und die Interaktion mit einer überschaubaren Anzahl von anderen Menschen – so unterschiedlich sie auch sein mögen – liegt schlichtweg in unserer Natur.
Eine Bedingung für ein aktives nachbarschaftliches Zusammenleben sind weiche Kanten („Soft edge“) zwischen Privat und Öffentlich. Insbesondere in Straßen, in denen vorrangig gewohnt wird, sind Vorgärten, Vorplätze und Veranden ideale Verbindungsräume, um nachbarschaftliche Interaktion zu fördern.
Sitzbank ist nicht gleich Sitzbank! Eine gute Gestaltung von Treffpunkten auf der Straße folgt Mustern, deren Wirkung der dänische Stadtplaner Jan Gehl ausgiebig analysiert hat. Begrünung, angenehme Oberflächen und das richtige Verhältnis von - Schutz vor - und - Öffnung zur - Umgebung entscheiden, wie einladend wir Menschen einen Ort empfinden. Bestenfalls hält der urbane Raum verschiedene Sitz-Angebote für verschiedene Bedürfnisse vor – von einzeln und isoliert bis gruppiert und gesprächsfördernd, mit und ohne Tische, mit und ohne Liegen oder auch für Zielgruppen mit speziellen Anforderungen, wie Schwangere, Kinder oder Gehbehinderte.
Betätigungsmöglichkeiten sportlicher Art, wie Tischtennisplatte, Boulebahn, Straßenschach oder auch bewegbares Stadtmobilar fördern nachbarschaftliche Begegnungen. Die Erfahrung zeigt zudem, dass sich in einer zunehmend diverseren Gesellschaft Nachbarschaftsgärten besonders gut eignen, um sprachliche und kulturelle Hürden unter Nachbarn zu überwinden. Die parallele Arbeit schafft zwanglose und entspannte Situationen und schnell entstehen gemeinsame Themen.
Temporäre Erlebnisse können zur Initialzündung für ein stärkeres Nachbarschaftsgefühl werden: seien es Straßenflohmärkte, eine Aktion wie “Lichterwege” in Wuppertal oder auch wandernde Installationen, wie der Pop-Up-Wald Berlin oder auch kulturelle Installationen, wie Open-Air-Bühne oder Open-Air-Straßenkino.
Unterstände oder Pergolen bieten losen Nachbarschaftsgemeinschaften auch bei unbehaglichen Wetterlagen (starke Hitze, Regen, etc.) einen Ort. Insbesondere Jugendliche, aber auch Senioren sind auf informelle Treffpunkte angewiesen, an denen sie auf ihresgleichen treffen.
In hochverdichteten (und teuren) Stadtlagen können auf ehemaligen Auto-Parkstreifen auch beheizbare und verschließbare Pavillons für das Gemeinwohl entstehen. In passenden Zeitfenstern könnten die Gemeinschaftsräume vielfältig bespielt werden (bspw. morgens Kita-Spielraum, Mittags Hausaufgaben- betreuung, Nachmittags Senioren-Tee und Abends Proberaum für den Nachbarschafts-Chor). Die Nutzung sollte gebührenfrei oder -arm und das Vergabesystem transparent und kriteriengebunden erfolgen
Das Mehr an Gemeinschaft auf kommunalem Boden organisiert sich nicht von ganz alleine: Bestimmte Regeln und Aufgaben müssen verteilt werden. Denkbar sind Patenschaften für neue gemeinsame Infrastrukturen oder auch temporäre Nutzungslizenzen. Zusätzlich braucht es eine*n Straßen-Concierge, der/die einerseits die Kümmererfunktion übernimmt, andererseits für ausgeglichene Interessen sorgt oder auch (temporär) hilfsbedürftigen Menschen bei ihren täglichen Aufgaben unterstützt.
Echte Freiheit beginnt jenseits unserer privaten Autos. Befreien wir uns von ihnen!